Obwohl selber ein Kind der Pixel-Generation, bin ich Titeln gegenüber argwöhnisch, die krampfhaft meinen Retro-Nerv stimulieren wollen. Ich bin mit Klassikern wie Castlevania, Phantasy Star, Super Metroid & Co. aufgewachsen – und bereits während der letzten Jahre der 16-Bit-Ära bin ich in den Job eingestiegen, den viele salopp als "Spieletester" bezeichnen.
Meine erste Aufgabe war eine Assistenz-Funktion beim Secret of Mana-Test von stellvertretenden MAN!AC-Chefredakteur Winnie (heute heißt das Kind "M!Games"; das Magazin, nicht WInnie), mein erster eigener Test war The Pagemaster – die unglückselige Umsetzung einer kruden Fantasy-Klamotte mit Macaulay Culkin und Christopher Lloyd.

Zu Beginn einer Testerkarriere darf man nicht wählerisch sein: The Pagemaster
Kartographie-Nachtschichten: Wie alles begann
In den nächsten Jahren folgten zahllose Kritiken zu bockschweren Jump'n'Runs und Rollenspielen bzw. Action-Adventures überwiegend fernöstlicher Couleur. Und bei nicht wenigen davon durfte ich Karten im Poster-Format erstellen: Das heißt, bis spät in die Nacht (eine von vielen Nächten) unzählige Screenshots anfertigen, die man dann in mühevoller Kleinarbeit und mit Hilfe von Photoshop bzw. eines überalteten Centris-Macs so zusammenklebt, das sie das Spiel akkurat abbilden. Das ist einerseits eine Strafarbeit, die ich meinem schlimmsten Feind nicht wünsche – andererseits hat sie fast schon meditative Qualitäten und kommt (wenn man die Nahtod-Erfahrung und die Panik-Attacken erstmal überstanden hat) mit ein paar erhellenden Einsichten: 1. Wenn du diesen Mist überlebst, ohne am nächsten Tag deine Kündigung auf den Tisch zu knallen und Dich in eine geruhsamen Job als Fahrkarten-Kontrolleur zurückzuziehen, dann machst du definitiv den richtigen Job. 2. Nachts in Mering hört Dich niemand schreien. Oder zumindest niemanden, den es interessiert.

Ich habe Earthbound nicht gespielt, ich habe es kartographiert!
Außerdem kommt der Job in der Kartographie-Nachtschicht mit ein paar nützlichen Talenten: Er bringt Dir Geduld und Präzisionsarbeit bei, bei mir hat er obendrein eine bis heute anhaltende Leidenschaft für das Grafik/Design-Fach geweckt. Hätte ich Mitte der 90er nicht Map-Puzzles für Breath of Fire- und Illusion of Time-Lösungen zusammengeleimt, würde ich heute vielleicht nicht zahllose Stunden über den Details für neue Elektrospieler-Seitenlayouts brüten.
Aber vor allem hat diese Arbeit bei mir noch etwas anderes geweckt – nämlich ein tiefes Verständnis für den logischen Unterbau und die Level-Struktur der behandelten Spiele. Earthbound durchzuspielen, das ist eine Sache – aber es Screen für Screen zu kartographieren und analysieren, eine ganz andere.
Ich liebe Pixelgrafik.
Darum bin ich heute immer wieder aufs Neue hin- und hergerissen, wenn ein weiterer Indie-Entwickler mit einem Pixel-Abenteuer um die Ecke kommt, das meinen Nostalgie-Nerv kitzeln soll. Im Grunde hege ich eine tiefe Liebe für die Treppchen-Grafik. Finde es großartig, dass der Look von damals überlebt hat und neuen Gamer-Generationen erhalten bleibt. Und ja, ich bin immer wieder aufs Neue fasziniert, wenn ich Teenager oder Twens sehe, die mit 3D-Optik nichts anfangen können, beim Anblick von Pixelfiguren aber glücklich zu quietschen beginnen. Dann realisiere ich jedesmal aufs Neue, dass dieser Look zeitlos ist – und größtenteils unabhängig von seinem technologischen Ursprung bzw. der Notwendigkeit, aus der er damals geboren wurde. Aber noch etwas anderes macht ihn so erfolgreich: Die groben Pixel, aus denen er sich zusammensetzt, machen keine Angst. Sie sind auch für Computerspiel-Fremdelnde einfach zu erfassen und werden als ein Stück gebändigte Computer-Kunst empfunden. Ihre Ästhetik kommuniziert "domestizierte Digitalität" in reinster Form.

Shovel Knight vermischt gekonnt 8 und 16 Bit Stilelemente
Doch was mich bei Titeln mit Retro-Ästhetik immer wieder misstrauisch stimmt, das ist die Art und Weise, in der sich viel zu viele Vertreter dieser Gattung dem Spiel-Design annähern: Denn trotz des modernen Potentials, das offenkunding noch immer in dieser wiederentdeckten Kunstform steckt, fällt den meisten nichts Besseres ein, als eine müde Imitation der 16Bit-Ära abzuliefern. Und das, ohne die zitierten Klassiker so gut verstanden zu haben, dass man ihre DNA hätte distillieren und dem neuen Projekt injizieren können.
Klassiker oder einfach nur alt?
Erschwerend hinzu kommt, dass längst nicht alle der verarbeiteten Klassiker gut gealtert sind: Ja, sie haben das Medium nachhaltig beeinflusst und gelten zurecht als unantastbares Kultobjekt – doch nicht selten steht uns eine böse Überraschung ins Haus, wenn wir das vielgeliebte Relikt nach 20 oder mehr Jahren aus der Versenkung holen, um das Hochgefühl von damals noch einmal zu erleben. Allzu oft müssen wir uns dann schmerzhaft eingestehen: Ja, war schön.

Nintendos Minis: Die verspielte Kindheit im Kleinformat
Schlussfolgerung: Das Artefakt ist entweder gar nicht mehr oder zumindest nur noch mit extra-dicker, rosaroter Retro-Brille genießbar. Das gilt natürlich längst nicht für alle Perlen aus dieser Ära: Nintendo bspw. hatte ein ausgesprochen glückliches Händchen dafür, solche Relikte auszubuddeln und auf seine "Virtual Console" zu portieren, die auch heute noch eine Menge Spaß machen. Aber selbst hier ist der Genuss manchmal eingeschränkt: So habe ich mich zwar wie ein Schneekönig auf das (S)NES-Mini mit The Legend of Zelda, Super Metroid und dem allerersten Castlevania gefreut – doch dass ich diese "AAA-Blockbuster" meiner Jugend noch ein mal bis zum bitteren Ende begehen werde, ist zweifelhaft – dafür haben sich meine Spiel- und Sehgewohnheiten während der letzten 25 Jahre zu stark verändert. Doch als eine Zeitmaschine eignen sich (S)NES Mini, Virtual Console und natürlich Emulatoren ganz hervorragend: Befinde ich mich in der richtigen Stimmung, dann mache ich einen kurzen Trip in die Vergangenheit, um mich noch mal für ein paar Stunden wie ein Zocker-Nerd aus den 80ern zu fühlen. Oder um Grundlagenforschung für meinen Job zu betreiben: Was für Spiel-Elementen waren im ersten 8Bit-Final Fantasy bereits zugegen, die bist heute überlebt haben – und welche sind im Laufe der vielen Jahre hinzu gekommen?
Retro als Verkaufsmasche?
Nun sehen sich "moderne Pixel-Games" aber mit dem Problem konfrontiert, dass sie kein Lehrstück in Sachen Retro-Gameplay sein sollten. Sie können die Zeitreise zwar andeuten, dürfen sie aber nicht vollziehen – denn ihr Publikum lebt im Hier und Jetzt, und nicht vor 20 Jahren. Also stehen ihre Schöpfer vor der Herausforderung, das Erbe der aufgearbeiteten Werke zwar intakt zu halten und korrekt zu zitieren, es aber gleichzeitig mit den Spielgewohnheiten und Design-Mechanismen zu paaren, an die sich ihre Kundschaft während des letzten Jahrzehnts gewöhnt hat. Die meisten Pixel-Games bekommen diesen Spagat leider gar nicht oder nur bedingt hin: Im Idealfall ist das Retro-Etikett hier lediglich eine Verkaufsmasche, hinter der sich immerhin noch ein spaßiges Spiel versteckt – schlimmstenfalls ist's nur eine leere Hülse, die weder jetzt noch in den 80er- oder 90er-Jahren eine Chance hätte.

Minecraft: Modernes Spiel mit ganz eigener Ästhetik
Würde man aus dieser These ein Dreiecks-Schema ableiten – mit der "leeren Hülse", der "Verkaufsmasche" und dem unwahrscheinlichen, aber nicht unmöglichen Fall eines rundum gelungenen, modernen Möchtegern-Relikts an jeweils einem Eckpunkt – könnte man die meisten Pixel-Orgien ziemlich bequem darin verorten. Mit einigen wenigen Ausnahmen – darunter Superbros. Sword & Sworcery EP, Minecraft und auch Hyper Light Drifter. Die entziehen sich z.B. der Einordnung, weil sie die Pixel-Optik nicht imitieren – vielmehr bemühen sie sich darum, sie aufzuarbeiten und sie zum Bestandteil ihres eigenen, ästhetischen Regelwerks zu machen. Sie betreiben keine Pixelgrafik, sondern PixelKUNST. Dabei verwenden sie z.B. Verläufe, Farbpaletten, Raster und Stilmittel, die während der zitierten Ära noch gar nicht realisierbar waren. Ihre Grafiken sind keine Rekonstruktion der 8Bit- und 16Bit-Epoche – sie sind eine Interpretation. Und dabei ist diese Entwicklung nur natürlich: Als sich die Grafik-Landschaft mit Beginn der Mitt-90er zugunsten von 3D zunehmend von der etablierten 2D- und Pixel-Darstellung verabschiedete, da hat sie die Anhänger der alten Darstellungs-Methodik weitgehend rat- wie heimatlos zurückgelassen. Ihre bisher so perfekt verlaufene Entwicklung wurde jäh unterbrochen. Fast schien es so, als hätte der Super-Predator 3D die 2D-Pixel-Ära gefressen – mit Final Fantasy 6, Donkey Kong Country, Yoshi's Island & Co. hatte die Darstellungsform kurz vor ihrem Aussterben die Evolutionsspitze erreicht, nur um kurz darauf fallen gelassen zu werden. Einsame Ausnahmen wie Squaresofts Legend of Mana machten sich auch auf der Ur-PlayStation daran, das 2D-Spiel weiterzubringen – aber der Zuspruch für derartige Experimente beschränkte sich auf den engsten Kreis der klassisch gepolten Genre-Fans. Lara Croft, Resident Evil-Zombies, und 3D-Figuren vor gerenderten Hintergrundgrafiken waren die Sieger dieses Evolutions-Abschnitts.
Darum ist die triumphale Rückkehr der 2D-Grafik und die Erhebung der Pixel-Darstellung in die Ränge einer modernen Multimedia-Kunstform vermutlich eine der wichtigsten Errungenschaften von Indie-Studios und unabhängigen Kleinst-Herstellern. Und besonders interessant wird ihr Wirken immer dort, wenn sie das existente Retro-Regelwerk nicht nur stumpf zitieren, sondern die damals ausgesetzte Entwicklung dieser Spiel- und Grafik-Gattung wieder aufnehmen. Damit die damals jäh unterbrochene Evolution weiter verlaufen kann – als eigenständige Nische, die sich auch mal ungeniert mit modernen Darstellungsformen austauscht, und zwar in beide Richtungen. Effekt-Blockbuster wie Ratchet & Clank sind ebenso wenig um retrospektive Zitate verlegen wie die vermeintlichen Retro-Schlachten um den Einsatz von 3D-Elementen. Prinzipiell eine feine Sache also – wäre da nicht die fast schon irrationale Häufung von Retro-Wellenreitern, die inzwischen seit Jahren die Download-Domänen fluten, ohne den Genre-Kanon um nennenswerte Innovationen zu ergänzen oder dabei sonderlich kreativ zu sein. Für mich vereint ein gutes Retro-Spiel visuelle und Design-seitige Konventionen von damals mit denen von heute – ein bemerkenswertes Exemplar dagegen schafft das Kunststück, eine alternative Zeitlinie und einen dazu passenden Evolutions-Strang aufzumachen. Und die beantworten dann eine Frage, die sich schon viele Retro-Fans gestellt haben dürften: Sie zeigen uns, wie Pixel- und 2D-Spiele aussehen würden, wären sie nicht vor 20 Jahren beinahe ausgestorben bzw. zu einer kläglichen Schein-Existenz verdammt worden. Ich wünsche mir mehr Indie-Entwickler, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der Pixel-Darstellung bewusst sind: Sie haben es in der Hand, ob diese Ästhetik wegen chronischer Überstrapazierung wieder in der Versenkung verschwindet oder sich als ebenso ernstzunehmende wie ernst genommene optische Disziplin etabliert. Und zwar dauerhaft.
Über den Autor

So sieht ein Vierteljahrhundert Expertenwissen aus: Robert Bannert
Mit 25 Jahren Branchen-Erfahrung gehört Robert Bannert – Spielstart 1974 in Köln – zu den erfahrenen Spiele-Redakteuren im Lande. Seitdem er 1994 bei der MAN!AC-Redaktion in die schreibende Zunft einstieg, fährt er zweigleisig – als Autor und als Grafiker. Nach einem zweijährigen Gastspiel als der deutsche Abe bei GT Interactive und Oddworld Inhabitants besetzte Robert bei diversen Games-Publikationen ("fun.generation", "players", "PC JOKER") den Posten des Chefredakteurs, danach rief er mit "elektrospieler" seine eigene Print- und Online-Plattform ins Leben, deren Herausgeber er bist heute ist. Erst kürzlich veröffentlichte er zusammen mit seiner Partnerin und dem ebenfalls Retro-verrückten Kollegen Thomas Nickel das "inoffizielle SNES-PIXELBUCH", für das er mit seinem Team einmal mehr tief in die 16-Bit-Vergangenheit abtauchen durfte. Das von Presse und Fans begeistert aufgenommene Werk kann hier bezogen werden.
Robert lebt mit einem mehrere tausend Titel starken Spiele-Archiv, ähnlich vielen Comics und umfassendem Konsolen- bzw. Handheld-Fuhrpark im bayerisch-ländlichen Mering, gemütlich gelegen zwischen Augsburg und München. Robert ist seit den frühen 90ern bekennender Mac-User – seinen Spiele-PC wirft er fast ausschließlich für Adventures und Indie-Games an, ansonsten greift er lieber zum Konsolen-Pad.
Öhm. Echt jetzt?
Ich weiß, eigene Meinung und so, aber was sind das bitte für Argumente...? Und brauchen wir eine Aufsichtsbehörde für un-inspirierte Spiele? 90% der aktuellen AAA Titel sind leerere Hüllen als 100% der neu erscheinenden Indie-Spiele...also nach meiner Meinung.
Einfach schon der Vorwurf, Indie Entwickler würden Pixelgrafik als Verkaufsmasche einsetzten, um armen, verwirrten Retro-Gamern das Geld aus der Tasche zu ziehen...das kann nur ein Witz sein. Dann, als Sahnehaube positive Beispiele anzuführen ohne negative Beispiele zu nennen. Als wären sämtliche Spiele von unabhängigen Entwicklern, die Pixelgrafik verwenden, Müll.
Selbst bei Spielen, die 1:1 die Ästhetik alter Spielgrafik kopieren ("Buratino", "The Adventures of Elena Temple", "Fitz the Fox") sollte einem klar sein, dass hier Grafik als tragendes, visuelles Element zum Einsatz kommt. Es trägt die Intention einen modernen Titel zu schaffen, wie er vor Jahren hätte erscheinen hätte können. Lehre Hülsen sehe ich unter diesen Titeln nicht. Vielleicht bei lieblosen Mobile-Ports wie "Spaced Invaders" oder "Jumpy Man" oder wie sie alle heißen. Diese Sachen sind wirklich leblose Kopien im Pixellook. Aber wo ziehen wir die Grenze?
Damalige Spiele kann man, aus heutiger Sicht fast alle als "experimentell" verstehen (8bit und 16bit Ära und davor). Damals machten sich kein Entwickler Gedanken darum, ob das eigene Spiel die momentane Ära der Videospiel Kunst widerspiegelt. Damals waren Spiele (vielleicht mehr als Indie-Spiele heute) kommerzielle Produkte, die Geld einspielen mussten. Manche waren sehr zukunftsweisend, ganz klar. Damals war alles besser...nein: anders! Heutige Releases sind ebenfalls ein Spiegel der Zeit. Egal welche Repräsentationsform, Grafik, Mechanik der Entwickler gewählt hat. Spiele mit Pixeloptik pauschal als Nachmache zu bezeichnen, ist ein echter Tiefpunkt. Mir fehlen die Worte.
Was ist mit modernen Spielen auf alten Systemen? "Xeno Crisis"? Verdammte Geldmache. "Hibernated 1"? Boah. Wäre fast auf dies seelenlose Abzocke reingefallen. Alles nur Fassade! Die kitzeln voll meinen Pixel-G-Punkt. Alles Verbrecher!
Haltloser, unüberlegter Quark. Tut mir leid.
Ich kenne Robert Bannert überhaupt nicht, obwohl ich eifriger Maniac Leser war. Übrigens: Mein Beileid zum Beruf des Spieletesters. Hatte keine Ahnung wie schwer das Schicksal eines Redakteurs sein kann. Page Master, Karten zeichnen? Wo war nur Amnesty International? Kein Wunder, dass man da nicht gut auf einige Spiele zu sprechen ist...
Frei nach Badesalz: "Damals im Bergwerk: Schaffe, schaffe!"; "Ja, aber damals während des Studiums, war auch ganz schön stressig..."
Ich hoffe, ich habe mich nicht zu sehr im Ton vergriffen. Tut mir ehrlich leid. Man sollte auch nicht gleich auf Dinge antworten, die einem persönlich und emotional nahe gehen. Bevor noch mehr Polemik aus mir hervor quillt, die meinen Standpunkt verwässert, beende ich lieber meinen Text. Vielleicht sehen es noch andere Menschen wie ich, die es besser in Worte fassen können.